Bei Amazon |
Ein verborgener Hain
Ein verfluchter Prinz
Ein Paar zertanzter Schuhe
Vor drei Jahren ist Jonas aus dem Krieg heimgekehrt und doch scheint es, als wäre er nie zuhause angekommen. Ziellos durch die Straßen schweifend, trifft er einen alten Mann, der ihm von den Wundern des DeModie erzählt, einem verwunschenen Reich im Herzen des Nachtlebens. Unzählige Reichtümer und Schätze erwarten ihn dort, doch, was Jonas wirklich verzaubert, ist die lebensfrohe Tänzerin Sophie, die ihn mit ihrem Lachen ansteckt. Jede Nacht tanzt Sophie mit ihrem Prinzen und jede Nacht zerreißen ihre Schuhe ein klein wenig mehr, und mit ihnen das Geheimnis, welches das DeModie und seine Bewohner umgibt.
Die zertanzten Schuhe mal anders. Im Bann eines verzauberten Tanzes spinnt die Autorin Janna Ruth märchenhafte Elemente der Brüder Grimm zu einer modernen Fabel über das glitzernde Nachtleben, zerbrochene Träume und verlorene Seelen.
KAPITEL 1
Ouverture
Schutt und Asche rieselten vom Himmel, als Jonas sich flach auf den Boden warf. Kaum dass er lag, erschütterte eine zweite Explosion die Erde. Schreie mischten sich unter das laute Heulen der Sirenen. Jonas presste die Hände auf die Ohren, aber die Schreie bohrten sich gleichzeitig mit den Glassplittern tief in seinen Kopf. Hitze wallte über ihn hinweg und brachte den Geruch von verbranntem Fleisch mit sich. Die Schreie wurden lauter, kreischten unmenschlich hoch. Er konnte ihnen nicht entgehen, verbrannte mit ihnen, während er sich gleichzeitig unter Anstrengung all seiner Kraft aus dem Schutt wühlte, den Kopf immer unten. Nur nicht auffallen. Wenn er nur weit genug weg war, hätte er eine Chance.
Zum dritten Mal wurde seine Umgebung in Stücke gerissen.
Es war sein eigener Schrei, der Jonas schließlich aus dem Schlaf riss. Desorientiert und nach Luft schnappend sah er sich in dem kleinen Zimmer um. Nirgendwo lag zersplittertes Glas. Die Balken waren nicht zerborsten. Der Mann im anderen Bett röchelte nicht, sondern schnarchte. Jonas‘ Herz schlug heftig, die Laken waren durchgeschwitzt und in seinen Augen brannten Tränen, aber er war in Sicherheit.
Seufzend ließ Jonas sich zurück ins Kissen fallen und starrte die Decke an. Noch immer hallten die grausigen Schreie in seinem Kopf, nur unterbrochen von immer heftigeren Detonationen. Er hatte das Soldatenleben aufgegeben und den Krieg hinter sich gelassen und dennoch ließ er ihn nicht los. Er hatte das Gefühl stillzustehen, während die Welt sich um ihn weiter drehte. Als gäbe es für ihn nichts anderes mehr als diesen Albtraum. Je länger er an die Decke starrte, desto heftiger spürte er die Erschütterungen, wenn die Bomben in seinem Kopf explodierten.
Die Wunde auf seinem Rücken begann mit einem Mal zu schmerzen und Jonas hielt es nicht länger aus. Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Während er sich anzog, lauschte er auf die Umgebung. Von dem Schnarchen seines Zimmernachbarn abgesehen, lag die Jugendherberge in vollkommener Stille. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass es vier Uhr morgens war. Selbst die Gruppe grölender Jugendlicher vom Vorabend war längst im Bett verschwunden. Es war diese Stille, die die Albträume nachts einlud. Die Stille in ihm, die er selbst nicht zu vertreiben vermochte. Schon schlichen sich die Erinnerungen, die er zu vergessen suchte, wieder an. Sie lauerten nie weit entfernt in seinem Unterbewusstsein.
Er brauchte einen Ortswechsel. Geräusche. Leben.
Jonas beschloss die Jugendherberge zu verlassen und den Morgen zu nutzen, sich mit der neuen Stadt vertraut zu machen. Mit ein wenig Glück hatte er heute Abend endlich wieder einen Job und konnte versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Alles, was er tun musste, war, durch das Bewerbungsgespräch zu kommen, ohne einen seiner Anfälle zu bekommen.
Die frische Luft half ihm, die Gedanken an den Traum endlich zu vertreiben. Es war angenehm draußen, nicht so heiß wie tagsüber. Hier draußen war die Nacht erfüllt von Lauten. Irgendwo hinter ihm tropfte eine Kühlanlage, zwischen den Gräsern zirpten die Grillen und ein Rascheln im Busch zog kurz Jonas‘ Aufmerksamkeit auf sich. Im Krieg hatte es keine Büsche gegeben, nur kalten nackten Stein.
Die Jugendherberge lag auf einem Hügel außerhalb der beschaulichen Kleinstadt und Jonas lief ein Stück, bis er freie Sicht hinunter auf die Dächer hatte. Die meisten Häuser lagen im Dunkeln. Nur hier und da drang das Licht der Straßenlaternen zu ihm hinauf. Unweigerlich wurde sein Blick auf ein kleines Lichtermeer im Süden der Stadt gezogen.
Wie von selbst trugen seine Füße Jonas in diese Richtung, auf der Suche nach Gesellschaft. Noch lange, bevor er die beleuchteten Straßen erreichte, konnte er den Puls des Lebens hören. Ein Bass dröhnte von weiter vorn, vermischte sich mit anderen Rhythmen und schon bald vernahm Jonas vereinzelte Melodien. Menschen torkelten über die Straße, lachend und grölend. Zu seiner Rechten keifte sich ein junges Paar an, während weiter vorne lautstark und falsch mitgesungen wurde.
Erleichtert ließ sich Jonas von den Klängen mittragen.
Es dämmerte bereits, als sich die Tür eines Clubs neben Jonas öffnete und lautes Gelächter ertönte. Eine Gruppe kichernder Mädchen stolperte ins Freie und scherzte mit dem Türsteher. Ihr lebensfrohes Lachen schlug Jonas in seinen Bann und er betrachtete die heiteren Nachtschwärmer, wie sie sich gegenseitig stützen, laut schnatterten und dabei immer wieder in Gelächter ausbrachen.
Besonders eine der jungen Frauen zog Jonas‘ Blick auf sich. Tänzelnd sprang sie trotz ihrer Trunkenheit hinter den anderen her, als würde sie eine Musik hören, die niemand anders vernahm.
Während er sie betrachtete, spürte Jonas zum ersten Mal seit langem, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass ihre bis in die Zehen gestreckten Füße barfuß waren. Irritiert folgte Jonas ihrer Spur zurück und entdeckte die liegengelassenen Schuhe nahe der Clubtür. Es waren keine Highheels, wie er erwartet hatte, sondern Spitzenschuhe, wie sie im Ballett benutzt wurden. Jonas bückte sich und beeilte sich der kleinen Gruppe zu folgen, die nun ein Taxi angehalten hatte.
«Entschuldigung?» rief er und das Mädchen drehte sich erwartungsvoll zu ihm um. Für einen Moment verlor Jonas sich in ihren dunklen Augen, dann räusperte er sich und hob die Schuhe in die Höhe. «Sie haben da was vergessen.»
Schwankend sah sie zuerst zu ihren bloßen Zehen, als müsste sie die Richtigkeit seiner Aussage überprüfen. «Oh, stimmt. Danke!»
Jonas betrachtete erneut die Schuhe in seinen Händen. Die Sohlen und die Spitze waren abgenutzt, die Bänder fransig und schmutzig. «Die sind ziemlich durchgetanzt.»
Das Mädchen sah auf und lachte: «Ja, schon irgendwie.» Als könnte sie nie lange genug stillstehen, tänzelte sie auf der Stelle herum und stolperte schließlich nach vorne.
Mit der linken Hand griff Jonas ihren Arm. Hitze breitete sich in seinem Magen aus, während er ihr half, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. «Alles in Ordnung?»
Sie nickte und strich sich mehrere Strähnen aus dem Gesicht, ein amüsiertes Grinsen auf den Lippen.
Mit einem kleinen Räuspern reichte Jonas ihr die Schuhe. «Hier.»
Sofort hob sie abwehrend die Hand. «Oh nein! Mir tun die Füße jetzt schon weh. Ich habe die ganze Nacht durchgetanzt. Ich glaube, ich könnte mir nicht mal die Bänder zubinden.»
In ihrem Zustand glaubte ihr Jonas das nur zu gerne.
Dennoch beharrte er darauf, ihr die Schuhe zu geben. «Ja, schon, aber …»
«Es sind nur Schuhe! Kaputte Schuhe!» Das Mädchen lächelte verschmitzt und Jonas konnte nicht anders, als es ihr gleich zu tun. «Behalt sie einfach!», schlug sie plötzlich im Übermut vor.
Die Absurdität des Angebots entlockte Jonas ein Schnauben. «Ich fürchte, die sind mir zu klein.» Zu seiner Freude hellte sich ihr ganzes Gesicht auf, als sie in schallendes Gelächter ausbrach.
«Sophie, jetzt komm endlich! Das Taxi wartet», drängelte eine ihrer Freundinnen und hielt ungeduldig die Tür auf.
Mit einem letzten Grinsen winkte Sophie ihm zu und stolperte mit etwas Hilfe in das Taxi hinein. Die Tür fiel zu und das lebensfrohe Gelächter verklang.
Seufzend sah Jonas dem Taxi hinterher, das kaputte Paar Ballettschuhe noch immer in der Hand. Als das Auto schließlich um die Ecke bog, drehte er sich neugierig zu dem Club um.
DeModie.
In düsteren, verschlungenen Lettern stand der Name über einer schmalen, unscheinbaren Holztür. Je länger Jonas hinsah, desto mehr schien sie mit dem Gebäude zu verschmelzen. Hätte er vorhin nicht direkt daneben gestanden, hätte er den Eingang niemals zwischen den leuchtenden Neonschildern der Nachbarclubs entdeckt.
Verwirrt wandte Jonas sich ab und ging weiter, Sophies Bild vor Augen. Noch immer waren seine Lippen zu einem Lächeln verzogen und er fühlte sich so lebendig wie lange nicht mehr. Gut gelaunt pfiff er ein Liedchen, während die Welt um ihn herum langsam erwachte.
«Interessanter Schuppen, oder?», wurde er plötzlich von der Seite angesprochen.
Jonas brauchte einen Moment, bevor er den Bettler in seinem Haufen Decken richtig wahrnahm. Nichts an dem Mann war auffällig. Das verfilzte Haar hing ihm tief ins Gesicht und seine Augen huschten unstet umher. Ein abgegriffener Plastikbecher stand vor ihm.
Zögerlich tastete Jonas nach seinem Portmonee und ließ ein paar Münzen in den Becher fallen. «Was meinen Sie?»
Der Bettler grinste ihn an und entblößte schiefe gelbe Zähne. «Das DeModie. Der Traum einer jeden Jungfer.»
«Jungfer?», wiederholte Jonas ungläubig. Das Wort hatte er das letzte Mal aus einem Märchenbuch gehört. Er sah zurück zu der Stelle, wo das DeModie förmlich zwischen den anderen Clubs verschwand. «Sieht für mich eher nach Absteige aus.»
Der Mann hustete und klopfte auf den Platz neben sich. «Eben eben, es soll ja nicht jeden anlocken.»
Jonas zögerte. Das war nicht unbedingt die Gesellschaft, nach der es ihn verlangt hatte. Aber was, wenn er nicht der einzige war, den es nach einem kurzen Gespräch verlangte? «Und wer soll stattdessen reingehen?», fragte er, während er neben dem Bettler Platz nahm. «Etwa zarte Jungfern?»
Die blauen Augen des Bettlers funkelten vergnügt, während er nach vorne langte und das Geld zwischen seinen warmen Decken verschwinden ließ. «Du wirst es schon sehen, wirst es schon sehen.»
Jonas wunderte sich, was genau er sehen würde, doch der Mann war mit sich selbst beschäftigt und murmelte vor sich hin. «Irgendwo … na, ich habe doch … ja, ja, die Zeit und ihre Träume … Ah, da bist du ja.» Jonas fragte sich schon, in was für eine Situation er sich jetzt schon wieder manövriert hatte, als der Mann eine kleine Flasche hervor nahm. Grunzend schüttete er die Münzen aus seinem Becher und goss ein. Jonas wollte sich gerade wieder erheben, als der Bettler ihm plötzlich den Becher vor die Nase hielt. «Hier, trink!»
Zögerlich betrachtete Jonas den gräulichen Rand des Bechers. Seine Gedanken sprangen sogleich zu den zahlreichen Krankheitserregern, die sich mit Sicherheit in dem Becher tummelten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was er sich dabei wohl alles holen könnte.
Und wenn schon.
Wenn der Krieg ihn nicht umgebracht hatte, würde es dieser Becher erst recht nicht tun. Jonas griff nach dem Becher und nahm einen Schluck. Fast hätte er ihn wieder ausgespien, so widerlich schmeckte der Schnaps.
Lachend nahm der Bettler ihm den Becher wieder ab und leerte ihn in einem Zug. «Nicht viel gewöhnt, was?»
Jonas verzog das Gesicht. Der ekelhafte Geschmack lag ihm noch immer auf der Zunge.
«Aber gut erzogen und freundlich. Würde sich nicht jeder zum alten Manu setzen.»
«Was ist denn das für ein Club?» fragte Jonas schließlich, als er wieder Luft zum Atmen hatte, bemüht wenigstens etwas Vernünftiges aus dem alten Mann herauszubekommen.
«Oh, der schönste Ort auf Erden, reicher als jede Schatzkammer und voller Freuden.» Sehnsüchtig sah der Mann zu dem Club, bevor er ihm den Blick wieder zuwandte. «Und der kälteste. Hier, ich will dir was geben.»
Zu Jonas‘ Entsetzen begann der Mann sich aus der obersten Decke zu schälen, die sich als ein zerschlissener Wintermantel herausstellte, und reichte ihn Jonas.
Protestierend hob Jonas die Hände. «Oh nein, das kann ich nicht annehmen. Sie brauchen den mehr als ich. Jetzt ist es noch warm, aber später …»
«Nimm ihn, Junge», grollte der Bettler überraschend vehement. «Das ist kein gewöhnlicher Mantel.»
Skeptisch hob Jonas die Brauen. «Nicht?»
Der Bettler nickte mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. «Du wirst sein Geheimnis schon noch lüften. Glaub mir, dir wird er mehr nutzen als mir. Er stammt aus dem Club.»
«Ich …» Jonas fiel nichts ein, was er dazu sagen konnte und so beließ er es bei einem schlichten «Danke».
Der Bettler lächelte wohlwollend. «Vertrau mir. Damit kannst du dir Zugang zu all den wunderbaren Träumen verschaffen.»
Zweifelnd sah Jonas auf den zerschlissenen Mantel. Jetzt war er Besitzer von gleich zwei Kleidungsstücken, die am besten in die nächste Mülltonne gehörten. Vielleicht sollte er darüber nachdenken, einen Second-Hand-Laden aufzumachen, wenn das Vorstellungsgespräch wieder in die Hose ging.
Kaum hatte der Bettler sein Geschenk übergeben, verlor er das Interesse an Jonas. «Nun mach schon, dass du wegkommst, Junge.»
Irritiert stand Jonas auf. Im Fortgehen warf er immer wieder einen Blick über die Schulter. Der Bettler schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr und verschwand stattdessen wieder in seinen Decken, unscheinbar wie das DeModie.
Jonas wandte sich nach vorne und betrachtete sein neues Erbstück. Im Sonnenlicht sah er gar nicht mehr so dreckig aus. Ganz im Gegenteil, der Schmutz war verschwunden und zum Vorschein kam ein Stoff, der feiner war, als alles, was er je in der Hand gehalten hatte. Er fühlte sich unglaublich leicht und trotzdem weich wie Samt an. Wenn er das feine Gewebe zwischen den Fingern hin und her rieb, schimmerte der Stoff sogar im Sonnenlicht.
An seinem Verstand zweifelnd betrachtete Jonas die Schuhe in seiner anderen Hand. Sie sahen genauso abgenutzt aus wie zuvor.
Müde rieb Jonas sich mit dem Arm über die Augen. Vielleicht hinterließen die Schlafstörungen doch langsam ihre Spuren. Bei einem letzten zweifelnden Blick zurück stellte Jonas fest, dass die Ecke vollkommen leer war. Als wäre der Bettler nie dagewesen. Kopfschüttelnd betrachtete Jonas den merkwürdigen Mantel in seiner Hand. Der Schnitt war altmodisch und der Stoff gut eine Handbreit zu lang für ihn. Dabei hatte der alte Mann gar nicht so groß gewirkt.
Hoffentlich würde der Rest des Tages nicht ebenso verwirrend verlaufen. Schließlich stand seine Zukunft auf dem Spiel.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Für die erforderliche Zuordnung des Kommentars wird man personenbezogene Daten speichern, nämlich Name, E-Mail und IP-Adresse. Durch Absenden des Kommentars erklärt der User sich hiermit einverstanden.