Areshva
Sie hat lange schwarze Haare, dunkle Augen, und ledrige Fledermausflügel, mit denen sie fliegen kann, da sie zum Volk der Skeff gehört. Sie ist klein, zierlich, hat große magische Begabung, zielstrebig, temperamentvoll, ehrgeizig, geltungsbedürftig, machthungrig und fühlt sich denen tief verbunden, die sie liebtSie hat als Kind ihre Mutter und ihre Brüder verloren, die bei einem Brand starben und wuchs danach als Priesterschülerin am Tempel ihrer Lehrmeisterin auf, der Priesterin Kirisha von Pallanthia. Von ihrer Familie lebt nur noch ihr Vater, der verwilderte, gesetzlose Smorkyn, an dem sie mit ganzem Herzen hängt.
Als ihre geliebte Lichtgöttin Lystrella ihre Macht verliert und Areshva keine Zauberkraft mehr verleihen kann, nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Silvrin
Agga
Wukur
Ebenfalls ein Skeff, dunkelhaarig, schneidig, gutaussehend und verführerisch. Ein skrupelloser Ganove, dem es gelingt, sich zum Fürsten hochzuputschen und die Provinz Darghessa mit verbrecherischer Hand zu führen. Er ist außerdem ein Frauenheld und schaut jedem hübschen Mädchen nach. Ganz besonders hat es ihm eine Prinzessin angetan, deren Herz überhaupt nicht leicht zu erobern ist.1. Im Tempelpark
Unser Tempel wird nicht brennen, versuchte Areshva sich einzureden. Es ist nur ein Traum. Zwar ist es schon vorgekommen, dass ihre Träume wahr wurden…
Sie krallte die Hände um die Zügel. Die Kutsche schaukelte auf dem unebenen Weg und schüttelte sie durch. Vorsichtshalber faltete sie ihre ledrigen Fledermausflügel etwas auseinander, um bereit zu sein für eine Flucht.
Warum bin ich so schreckhaft?, fragte sie sich.Als könnte auch nur die allerkleinste böse Spinne in den Tempel eindringen -ihre Göttin würde sie rechtzeitig verscheuchen.
Die Einhörner trabten eifrig vorwärts. In der Nacht hatte es geregnet, so dass der Waldweg voller Pfützen war. Areshva lauschte dem Platschen der Hufe, dem Trillern der Blaumeisen in den Linden über ihr und dem leisen Singen ihrer Göttin Lystrella, das die beängstigenden Bilder ihres Traumes verdrängte.
Ihre Freundin Maari fuhr neben ihr zusammen, als Areshvas Flügel ihre Schulter streifte.
»He! Was machst du? Hast du vergessen? Nicht fliegen mit dem Ei, das verträgt es nicht.« Lächelnd strich Maari mit einem Finger über das Tragetuch, das Areshva sich um den Bauch geschlungen hatte und dessen Mittelteil sich so ausbeulte, als brütete ein Drachengelege darin. »Was für eins hast du bekommen? Vielleicht diesmal eine kleine Elfe?«
Wie kann sie nur so unbekümmert sein, dachte Areshva und strich sich die langen, schwarzen Haare so heftig aus dem Gesicht, dass einige in ihren Fingern hängen blieben. Sie träumt sicher nicht jede Nacht von Feuersbrünsten. Oder von dieser Armee, die unsere Stadt belagert…
»Eher ein großes Küken. Es pickt schon von drinnen gegen die Schale, ich höre es knacken.« Areshva versuchte die drückenden Gedanken abzuschütteln. Warum war sie nicht froh? Schließlich würden sie heute das Seelenfest feiern. Das schönste, großartigste Fest der Göttin. »Und wo ist dein Ei, Maari?«
Die Fruchtkörbe auf der Ladefläche des Erntewagens hinter ihr stießen geräuschvoll gegeneinander, als die Räder über die verwitterten Pflastersteine rumpelten. Düfte von Lavendel und Dahlien mischten sich mit den herben Gerüchen der Kräuterpflanzungen.
Maari heftete ihre klarblauen Augen auf Areshva.
»Ich hab keins, ausnahmsweise. Diesmal hätte ich gar keine Zeit, mich darum zu kümmern. Stell dir vor, ich darf der Meisterin assistieren, wenn sie die Seelenbäume weiht. Ich bin schon schrecklich aufgeregt!«
Ein neidvoller Stich bohrte sich Areshva in den Magen.
Typisch. Findet die Priesterin etwa, dass sich Maari besser für so eine ehrenvolle Arbeit eignet als ich? Nicht, dass Maari nicht geeignet wäre … Klar ist sie das, die tüchtige Maari, und natürlich gönne ich es ihr …
Areshva schluckte.
»Bei der letzten Zauberparade war ich in fast allen Übungen die beste. Trotzdem kriege ich nie höhere Aufgaben.«
Maari legte ihr sanft den Arm über die Schulter.
»Du weißt doch, dass unsere Priesterin vor allem Wert auf die innere Einstellung legt. Da findet sie bei dir immer etwas zu tadeln. Mach dir nichts draus! Deine Zeit wird schon kommen.«
Areshva reckte ihre Flügel und faltete sie wieder zusammen.
Verstimmt lehnte sie sich an die Ladefläche ihres Wagens. Dort stapelten sich körbeweise Timelken und vanilleduftende Ysanen für die Festmesse. Sie fischte eine gebogene orangefarbene Frucht heraus und führte sie zum Mund -
ließ sie dann aber wieder sinken.
»Ich dachte, wir wären noch zu jung, um Aufgaben beim Seelenfest zu übernehmen?«
Gemächlich bogen die Einhörner in einen Parkweg ein und zuckelten dann durch ein Tor aus Rosen.
»Ja, dachte ich auch.« Maari nahm Areshva die Frucht aus der Hand und biss schelmisch lächelnd hinein. Kauend fügte sie hinzu: »Aber siescheint ihre Ansicht geändert zu haben. Sonst hätte sie uns nicht vor einem Mond so plötzlich zu Priesterinnen weihen lassen. Dafür musste man früher mindestens einundzwanzigsein. Hast du dich nicht auch darüber gewundert? Sieben Schülerinnen gleichzeitig. Das hat es noch nie gegeben. Möchtest du abbeißen?«
Da war es wieder, das grummelige Gefühl im Magen.
Abbeißen, nein. Obwohl das Fruchtfleisch der Timelke wirklich saftig aussah.
Ihre Priesterinnenweihe hatte Areshva nicht als eine Erhebung oder als Belohnung für treue Dienste empfunden. Eher als einen hektischen Akt, zu dem eine höhere Macht die Priesterin gezwungen hatte aus Gründen, die sie nicht preisgeben wollte.
»Auf der anderen Seite habe ich immer gedacht, dass ich auch mit achtzehnschon eine gute Priesterin sein kann«, erklärte Maari. »Welchen Sinn soll es haben zu warten, bis ich einundzwanzigwerde? Glaubst du, dann legt sich ein Hebel um und wupps, bin ich auf einmal genauso weise wie die Priesterin Kirisha?«
Areshva lachte. Sich die verträumte Maari in der Rolle ihrer gestrengen Lehrmeisterin vorzustellen, das ergab ein groteskes Bild. Auch Maari fing prustend an zu kichern.
Vor ihnen erhob sich der Heilige Hain.
Die weißen und gelben Blüten auf den Opferbäumen leuchteten wie kleine Sonnen, während sie Millionen von hell glitzernden Magietropfen in den Himmel auffliegen ließen -direkt der großmächtigen Lystrella in die Arme, der heiligsten Göttin des Universums. Sie war sicherlich auch dessen mächtigste Göttin, denn aus dem ständigen Magieregen gewann sie unermessliche Mengen an Energie. Aus diesem Vorrat schöpfte sie die Zauberkräfte, die sie ihren Dienerinnen schenkte.
»Was wohl Prinz Osving sagen wird, wenn er mich heute Abend in den Gewändern der Hilfspriesterin sieht?» Ein träumerischer Ausdruck glitt über Maaris feine Gesichtszüge. Sie warf den Rest ihrer Timelke in die Luft, wo ein Schwarm Vögel herumwirbelte. Sie stoben auf den Strunk zu, fingen ihn und ließen sich damit auf einer Eiche nieder.
»Prinz Osving!« Areshva grinste. »Glaubst du wirklich, er wird dich ansprechen? Der hält seine Nase so hoch über dem Erdboden, dass er uns gar nicht bemerkt. Ganz ehrlich, Maari, ich würde keinen Gedanken an ihn verschwenden.«
»So, so!« Maari tippte Areshva übermütig mit dem Finger auf die Nase. »An welchen Prinzen verschwendest du denn deine Gedanken, verrätst du es mir?«
Areshva tat so, als wollte sie nach dem Finger beißen. Maari quiekte laut und zog ihn schnell zurück.
»Ich mache mir nichts aus diesen höfischen Herren«, sagte Areshva und erhitzte sich, als sie versuchte, ihre Träume in Worte zu fassen. »Ich will einen Mann, der stark ist wie ein Drache - und ein Herz hat so weich wie Butter.«
Das Donnern eines Kanonenschusses zerriss die Luft. Dann krachte es wie von berstendem Holz. Schlagartig fiel eine erschrockene Stille über den Park. Alle Strahlen erloschen, die Opferbäume wurden zu gewöhnlichen Gewächsen. Ihre Zweige bewegten sich ruckartig, als ob sie zitterten.
»Das Stadttor?« Entsetzt blickte Areshva zu Maari, die wie versteinert neben ihr saß. Sie riss an den Zügeln. Die Einhörner blieben stehen und Areshva sprang auf. Ihr heiliges Ei rutschte abwärts und schlug gegen ihre Hüfte, wo das Tuch seinen Fall stoppte. Reflexartig hielt sie es fest. Hoffentlich war ihr Tierbaby nicht verletzt. Vorsichtig strich sie mit der Hand über die Schale, sie war noch fest. Lystrella sei Dank.
Was konnte passiert sein? Areshva lauschte angestrengt. Es war so leise, als hielte die gesamte Natur den Atem an.
Der dröhnende Gong der Tempelglocken unterbrach die gespenstische Stille, doch diesmal rief er nicht zum Gebet. Harte, schnelle, nicht enden wollende Schläge. Jemand schlug Alarm.
Das Blut begann in ihren Adern zu rasen. War die Priesterin in Gefahr? Sie musste zu ihr. Sofort!
Hastig klappte sie ihre pechschwarzen, langen Lederflügel auseinander.
»Übernimm du die Kutsche, Maari, ich fliege zum Tempel, dann bin ich schneller dort«, keuchte sie. »Möge die Göttin uns beistehen.«
»Dein Ei?«, wisperte Maari.
Verflixt. Es konnte eines von der Sorte sein, die es nicht vertrugen, durch die Luft geschüttelt zu werden. Sie wollte es nicht wieder hergeben, aber es war ja nicht für lange. Areshva zog sich das Tragetuch über den Kopf und schob es ihrer Freundin vorsichtig auf den Schoß.
»Pass gut auf mein Küken auf, ja?«
Mit kräftigen Flügelschlägen erhob sie sich in die Luft. Unter ihr rannten Scharen von Dienerinnen und Besuchern. In wilder Panik eilten sie von den Beeten und Wäldern zum Tempelgebäude. Es waren so viele, dass sich vor dem Eingangstor schon ein langer Stau gebildet hatte. Auch vor den Nebeneingängen des Tempels drängelten sich hunderte Menschen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, eine Skeff zu sein in einer Stadt, in der sonst nur goldhaarige Parva lebten. Anders als sie konnte sie sich deshalb einfach über die Köpfe der Massen hinwegschwingen. Sie flog aufwärts, bis sie das Tempeldach erreicht hatte, steuerte auf eines der Einfluglöcher zu und ließ sich geschmeidig hindurchgleiten.
Drinnen war es gleißend hell. Das Licht strömte aus der Kristallkugel, sie sandte hoch konzentrierte weiße Strahlung durch die Halle. Die Kugel ragte in die Höhe wie ein Haus. In ihrem Innern wallten und schäumten schmale Energiewellen wie in einem sturmgepeitschten See mit weißem Wasser. Areshva schauerte von der angenehmen Wärme, als die magische Strahlung wie ein Windhauch ihre Haut traf. Die zarte, trillernde Tempelmusik wurde von den aufgeregten Gesprächen, dem Rufen und Jammern der zahlreichen Besucher weitgehend übertönt.
Vor der Kristallkugel überwachte die hochgewachsene Priesterin Kirisha den Menschenauflauf. Sie war blass im Gesicht und stand starr wie eine Statue. Ihre langen goldblonden Haare fielen Sonnenstrahlen gleich auf ihre weißen Gewänder. Die Anspannung der zahlreichen Schutzsuchenden hing wie ein unsichtbares Tonnengewicht über der gesamten Halle. Da Areshva am Boden keinen Platz für die Landung fand, ließ sie sich auf den Schultern einer Steinfigur nieder. Jetzt breitete die Priesterin die Arme aus, das Raunen der Menschenmenge verstummte.
»Bürger von Pallanthia!« Ihre Stimme dröhnte unnatürlich laut. »Unsere Feinde stürmen die Stadt.« Die Priesterin holte Luft. »Ihr wisst, was in den anderen Provinzen passiert ist, die sie eroberten. Man hat alle Zauberinnen gezwungen, zu ihren grausamen Göttinnen überzulaufen. Es heißt, dass diese von ihren Dienern Todesopfer verlangen. Meine Freunde! Haltet in dieser schweren Stunde unserer gütigen, liebenswerten Göttin Lystrella die Treue – was auch geschieht!«
Frenetischer Beifall donnerte durch den Tempel. Areshva klatschte mechanisch mit. Sie konnte den Blick nicht vom verzerrten Gesicht der Priesterin abwenden, so ernst hatte sie Kirisha noch niemals gesehen. Sie würde am liebsten den Feinden entgegengehen und sie eigenhändig wieder zum Tor herausschlagen, doch den Gedanken verbiss sie sich natürlich. Erstens würde es sicher nicht funktionieren, und zweitens würde sie Lystrella erzürnen. Die Göttin verabscheute jede Art von Gewalt, gerade diese Einstellung erhob sie über alle anderen Herrscherinnen.
Wieder erhob die Priesterin ihre Hände. Der Applaus verebbte.
»Ich werde mit einigen Vertrauten im Tempel bleiben und unseren Gegnern zeigen, dass die Fähigkeiten unserer Göttin auch ihnen Vorteile bringen könnten. Ich werde einige ihrer Kranken heilen und vor ihren Augen Getreide wachsen lassen. Haltet mir die Daumen, meine Freunde, dass diese Demonstrationen auf fruchtbaren Boden fallen. Wir müssen jedoch Vorsorge treffen für den Fall, dass mein Vorhaben scheitert. Ich wünsche, dass ihr alle euch an den Notfallplan haltet und jeder von euch auf der Stelle, ruhig und ohne zu drängeln, das ihm zugeteilte Versteck aufsucht und darin so lange ausharrt, bis ich Entwarnung läuten lasse.«
Die Worte klatschten Areshva ins Gesicht wie Ohrfeigen.
Notfallplan …
Das war doch bloß eine blöde Übung?, dachte Areshva. Das kann gar nicht Wirklichkeit werden. Oder hat die Priesterin etwa gewusst, dass Unheil im Anmarsch ist?
Dieser Notfallplan …
So kann man das doch nicht machen! Fassungslos sah sie dabei zu, wie sich die Menschenmassen sortierten, wie sie sich zu kleinen Gruppen sammelten und sich anschickten, zuverlässig gleich einem Uhrwerk jede in eine andere Richtung abzumarschieren.
Aber die Priesterin? Was würden die Feinde mit ihr machen, wenn sie scheiterte?
Sie töten sie, fuhr Areshva die Antwort durch den Kopf, hart und unbarmherzig. Und wir sollen sie im Stich lassen? Nie im Leben!
Sie stellte sich aufrecht hin, erhob ihre Flügel und segelte über die Köpfe der Menschen zur Priesterin hin, vor deren Füßen sie landete.
»Areshva«, sagte Kirisha und hielt ihr tadelnd einen Finger entgegen. »Warum missachtest du den Plan? Du sollst deinen Platz in den Katakomben aufsuchen.«
»Ich kann nicht. Lasst mich an Eurer Seite bleiben«, rief Areshva. »Ich würde es nicht ertragen, wenn Euch etwas zustößt!«
Die Augen der Priesterin begannen zu funkeln.
»Ich hoffe, du tanzt nicht wieder aus der Reihe. Geh jetzt und tu, wie dir befohlen.«
Areshva nickte gehorsam und folgte dem Strom der Menschen. Doch es war ihr, als hemmten Felsen ihren Weg. Die Füße wollten ihr nicht gehorchen. Sie durfte nicht fliehen, das hatte sie damals getan, als sie ihre Mutter und ihre Brüder verlor, als ihr Haus in Flammen aufging. Nur daran zu denken, war wie ein Stich ins Herz.
War es heute nicht wie damals? Sie konnte noch einmal ihre Familie verlieren! Rotgelbe Flammen tanzten vor ihren Augen. Das Höllenfeuer. Es würde kommen und alles verschlingen. Aber diesmal würde sie sich nicht verstecken, sondern kämpfen. Notfalls bis zum Äußersten.
Entschlossen faltete sie ihre Flügel auseinander, erhob sich über die Menge und segelte zum Einflugloch empor.
2. Der Schmied
Die Schmiedewerkstatt strahlte eine Hitze aus wie ein Backofen, die Kohlen in der Feuerstelle hatten trotz der sommerlichen Temperaturen den ganzen Tag gebrannt. Silvrin klebte das Hemd am Leib. Während er darauf wartete, dass die Eisenstange im Feuer die richtige Temperatur erreichte, setzte er den Spaltkeil auf den Amboss. Er bereitete den Schmiedehammer vor. Die Stange war noch zu lang, deshalb schnitt er sie im ersten Arbeitsschritt auf die richtige Größe ab. Als das Eisen glühte, platzierte er es auf den Keil und hieb darauf ein. Er arbeitete wie ein Mühlrad, unermüdlich krachte sein Hammer auf das Metall.
Als er innehielt, um die Stange zu begutachten, hörte er hinter sich leichte, federnde Schritte. Ihm stockte der Atem, er ahnte, zu wem sie gehörten. Er linste aus den Augenwinkeln hinter sich.
Bei der großen Göttin. Sie war es, Ari! Des Meisters schöne Tochter. Er pflegte während der Arbeit ausgiebig über sie nachzudenken, es beflügelte ihn. Sie war noch nie in die Schmiede heruntergekommen. Was hatte sie hier wohl zu tun?
Er hörte sie in der Werkstatt herumgehen. Sein Herz begann schneller zu schlagen als sein Hammer. Wie er sie bewunderte. Sie hatte ein kleines, zartes Gesicht, wie ein Kätzchen, und sie lächelte ihn immer an, wenn sie sich trafen. Leider geschah das selten. Der Meister achtete darauf, dass sie nicht faulenzte. Sie saß fast den ganzen Tag mit den Mägden in der Nähkammer und fertigte Kleider und Stickereien an.
Es fiel ihm schwer, sich auf das Zurechtbiegen seines Werkstücks in Hufeisenform zu konzentrieren, spürte er doch Aris Gegenwart hinter seinem Rücken nur allzu deutlich. Er stand am Amboss und hieb auf das Eisen, dass die Funken sprühten. Die Arbeit ging ihm normalerweise leicht und fließend von der Hand, er kannte die Fertigungsschritte auswendig. Jetzt aber kam es ihm vor, als hätte er alles vergessen. Er konnte kaum seine Gedanken zusammenhalten. Was Ari machte, ahnte er nicht, denn sie stand ja hinter seinem Rücken. Beobachtete sie ihn? Götter im Himmel, warum jetzt? Er war rußig und verschwitzt von der Arbeit. Wahrscheinlich nicht gerade ein Anblick, der einem Mädchen gefiel.
Warum sollte sie ihn denn beobachten? Vielleicht brauchte sie einen Hammer. Er lächelte. Der Gedanke hatte etwas Komisches. Er sollte die Gelegenheit nutzen und sie ansprechen. Wenn er das nur wagte…
Sie trat an die Esse heran. Ihre Goldhaare leuchteten im Feuerschein und ihm wurden die Beine weich. Er wusste nicht, was er jetzt machen sollte.
Jetzt aber. Sei kein Feigling.
»Hallo, Ari. Was machst du denn hier?« Er wunderte sich darüber, wie natürlich seine Stimme klang.
»Ich habe mich nur gefragt, warum du nicht zum Schwimmen an die Badestelle kamst«, sagte sie und sah mit ihren herrlichen wasserblauen Augen zu ihm auf. »Bist du bald fertig?«
Er wischte sich verstohlen den Schweiß aus dem Gesicht. Ihr Götter. Sie stand ganz nah, er hätte sie berühren können. Stattdessen packte er das nächste Roheisen mit der Zange und legte es ins Feuer.
»Nein.« Wenn er sie doch festhalten könnte. Wenn er ihr doch sagen könnte, was er für sie fühlte. Aber das einzige, was ihm gelang zu sagen, war: »Ich muss noch siebzehn Hufeisen schmieden.«
»Oh.« Sie schien ein wenig unschlüssig. »Dann… störe ich lieber nicht.«
Sie wandte sich um und ging Richtung Treppe. Ihr unscheinbares Leinenkleid sah im Feuerglanz aus, als wäre es mit Perlen bestickt. Er ließ die Zange fallen, lief ihr nach und hielt sie von hinten am Ellenbogen fest.
»Du störst überhaupt nicht.«
Langsam drehte er sie zu sich herum. Ihr Gesicht war feuerrot angelaufen.
»Wirklich nicht?«
»Nein.« Ihm war, als schwebte er in einem luftleeren Raum, in dem er kaum Atem holen konnte. Er konnte nicht glauben, dass dies wirklich passierte. Ari, die wundervolle Ari, redete mit ihm!
»Ich… Ich könnte mich ja auf diesen Hocker setzen und… dir zugucken«, stammelte sie.
»Klar, wenn du willst«, sagte er schnell. »Es wäre sehr schön, wenn ich dich heute mal etwas länger sehen könnte als sonst.«
Sie machte jedoch keine Anstalten, sich hinzusetzen. Stattdessen stand sie still, wie eine Marmorsäule, die ihm entgegen atmete mit so schweren Atemzügen, als spürte auch sie die Luftleere im Raum. Ihm wurde bewusst, dass er immer noch ihren Ellenbogen festhielt. Vorsichtig zog er sie etwas näher an sich heran - und sie folgte seinen Bewegungen. Ihm stockte nicht mehr bloß der Atem, sondern jetzt auch der Herzschlag. Das ging also! Konnte er sich noch mehr erlauben? Er zog sie langsam immer näher an sich heran. Jetzt war sie schon so dicht, dass er ihr Herz an seinem donnern hören konnte. Ohne weiter nachzudenken, schlang er beide Arme um ihre Hüfte und küsste sie. Sie schmiegte sich an ihn mit einer Innigkeit wie ein Kätzchen, das jemandem um den Körper streicht, und erwiderte seine Küsse. Sie versanken derartig ineinander, dass sie wie in eine neue, eigene Welt eintauchten.
Eine harsche Stimme von draußen riss sie in die Wirklichkeit zurück.
»Ari! Komm zum Abendessen!«
Erschrocken fuhren sie auseinander. Das war die Stimme der Mutter. Sie klang laut und ungeduldig.
»Ich muss gehen«, stotterte Ari. Verlegen senkte sie den Blick und hastete zur Treppe.
Der Abschied rasselte ihm mit Wucht in die Knochen. Er konnte sie nicht gehen lassen. Er wusste gar nicht, wie er diese Nacht überleben sollte, wenn sie wieder aus seinem Leben verschwände.
»Ari«, rief Silvrin ihr halblaut hinterher. Schon war er hinter ihr und sie fuhr herum.
»Silvrin.«
Sie flüsterte seinen Namen so weich, als wollte sie ihn mit Worten umarmen.
»Sehen wir uns morgen?«
»Hoffentlich.«
»Vielleicht nach dem Mittagessen, unten am Bach?«
»Ja, das… könnte gehen!«
Ihre Abwesenheit hinterließ eine dumpfe Leere in der Werkstatt und füllte sein Herz mit Sehnsucht. Er ging ein paarmal den Weg entlang, den sie gegangen war - vom Materialtisch an die Esse - und ihm war, als wären das immer noch ihre Haare und nicht Flammen, die im Feuer leuchteten.
Erst als von fern die Glocken schlugen, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht zum Zeitvertreib hier unten aufhielt, sondern seine siebzehn Hufeisen darauf warteten, geformt zu werden.
***
In den folgenden Wochen ließ der Frühling die Stadt in bunten Farben erblühen, und Ari glänzte als die schönste Blume von allen. Silvrin war erfinderisch geworden in der Kunst, genau den Augenblick abzupassen, an welchem sie morgens mit dem Eimer an den Bach ging, um frisches Wasser zu holen, oder wenn sie zwischendurch das Nähzimmer verließ, um neues Garn zu besorgen. Natürlich durfte er sich als einfacher Schmiedegeselle keine Annäherungsversuche erlauben, die man ihm als unredlich anrechnen könnte. Aber ihr Lächeln erschuf ja schon ein Himmelreich. Jedes kleine Wort, jede verstohlene Berührung ließ das Feuer in seinem Inneren höher auflodern.
***
An einem Tag um die Zeit der Kirschblüte schritt er mit schnellen Schritten die Krämergasse entlang, den Handwagen hinter sich herziehend. Er wollte zum Schrotthändler, um eine Ladung Alteisen abzuholen, die er zur Herstellung von neuen Hufeisen benötigte. Er hatte es eilig, denn er hatte Ari vorhin im Garten mit ihrer Schwester Unkraut zupfen sehen. Vielleicht konnte er sie in ein Gespräch verwickeln, wenn er zurückkam. Der Gedanke wärmte ihn derartig, als säße er an einem Kachelofen.
Seine Blicke glitten an den Häuserzeilen entlang. Prächtige Handelshäuser zierten die Hauptstraße. Hier ratterten mehrere Prunkkutschen entlang, Achtspänner mit vergoldeten Fensterrahmen und diamantbesetzten Fürstenwappen. Er brachte in Erfahrung, dass der Fürst von Pallanthia andere befreunde Höfe zu einem Ball eingeladen hatte, der heute Abend auf der Fürstenburg stattfinden sollte. Einen kuriosen Moment lang versuchte er sich vorzustellen, er selbst kutschierte Ari zu diesem Fest und würde sie in einem Kleid mit goldener Schärpe durch königliche Ballsäle wirbeln…
In den ärmeren Vierteln blätterte von vielen Fassaden die Farbe ab oder war grau geworden. Rostige Eisenstangen umzäunten verlassene Läden mit zugenagelten Fenstern. In einem Hinterhof spielten zerlumpte Gassenkinder und auf dem Marktplatz herrschte reges Treiben. Allerdings waren weit mehr Kunden als Händler auf dem Platz, viel Ware gab es nicht im Angebot. Nach der letzten Missernte war Getreide Mangelware und die viel gerühmten pallanthischen Timelken hatten schon nicht mehr getragen, seitdem er in der Stadt lebte, also seit dem letzten Sommer. Aber in einer langen Reihe stapelten sich zumindest Dutzende Käfige voller Hühner, die zu überhöhten Preisen angeboten wurden. Die Luft war erfüllt von ihrem unaufhörlichen Gackern. Silvrin lenkte seinen Handwagen in einem Bogen um die Marktstände herum, um keine Zeit zu verlieren.
Der Alteisenhändler hauste in einem baufälligen Hinterhaus, eingeklemmt zwischen Hauswänden, Plumpsklos und einer großen Müllhalde, denn die Bewohner der umliegenden Gebäude entledigten sich hier ihres Unrats. Silvrin schlängelte seinen Wagen zwischen einer stinkenden, von Schmeißfliegen umschwirrten Holzhütte und einer zerbrochenen Kutschendeichsel hindurch, stellte ihn neben dem Lagerraum ab und war bald darauf damit beschäftigt, seinen Wagen mit rostigen Stangen, unförmigem Eisengerümpel, zerbrochenen Ketten, Messern und Schüsseln vollzuladen. Billiger als hier konnte er nirgends Material bekommen. Der Schrotthändler, ein redseliger hagerer Greis, erzählte ihm währenddessen Geschichten. Es gab keine exotischen Basare, von denen er nicht gehört hatte, keinen spektakulären Handel, dessen Preis er nicht kannte, und auch keine Ware, die er nicht auf geraden oder verschlungenen Wegen beschaffen könnte.
»Die Geschäfte laufen nicht, wie?«, redete er auf Silvrin ein. »Du warst lange nicht hier. Bestellen sie nicht mehr bei euch?«
»Doch, doch«, erwiderte Silvrin geistesabwesend. »Wir haben gestern einen Großauftrag bekommen. Dreißig Zuchthengste beschlagen beim Großbauern Hennel.«
Er war mit seinen Gedanken bei Ari. Sie hatte ein sehr schönes gelbes Stickereikleid getragen, als er sie heute früh im Garten sah. Wie dumm von ihm anzunehmen, sie würde in solch feiner Kleidung Unkraut rupfen. Ob sie hohen Besuch erwartete? Vielleicht dieser Besuch aus Darghessa? Davon erzählte sie ihm doch schon seit Tagen.
»Ihr geht nicht mit der Zeit«, zerredete der Händler seine Gedanken. »Hufeisen, davon werdet ihr nie gut leben. Warum verlegt ihr euch nicht auf die Waffenschmiedekunst? Bei mir fragen täglich Leute an, wo sie sich ein gutes Schwert beschaffen können. In fast allen Provinzen locken sie doch die jungen Kerle in die Armeen. Gerade jetzt toben Kriege in mindestens vier Provinzen, so viel ich gehört habe. Dafür braucht man Waffen. Waffen ohne Ende, mein Freund, denk an meine Worte. Du könntest reich werden.«
Silvrin horchte auf.
Schwerter schmieden? Zusätzlich zu dem Geschäft mit den Hufeisen? Dazu hatte er eigentlich gar keine Zeit, schließlich arbeitete er bereits den ganzen Tag. Aber wenn er Nachtschichten einlegte? Wenn er durch die Waffenschmiede sein Einkommen … verdoppeln könnte, zum Beispiel? Vielleicht könnte er dann wagen, um Aris Hand anzuhalten. Welch eine Vorstellung!
Sein Wagen war vollgeladen. Mehr passte nicht hinein, ohne dass ihm unterwegs wieder etwas herausfiele. Er drückte dem Händler die vereinbarten fünf Scheller in die Hand, verabschiedete sich eilig und hastete dann im Laufschritt zur Schmiede zurück.
Er konnte Ari vielleicht bekommen. Sie heiraten! Sie heimführen als seine Eigene! Zwar hatte er erst ein einziges Mal ein zerbrochenes Schwert repariert und noch nie eines selbst hergestellt, aber man konnte alles lernen. Das musste er dem Meister erzählen. Sein Dienstherr wurde stets hellhörig, wenn es um Hellonen ging.
Direkt vor der Werkstatt parkte eine stattliche vierspännige Kutsche. Silvrin verlangsamte seine Schritte und musterte die blitzenden metallbeschlagenen Räder, die mit geschnitzten Blumenranken verzierte Holztür und die uniformierten Lakaien auf dem Kutschbock, die mit hochnäsigen Mienen durch ihn hindurch blickten, als wäre er Luft. »Goldschmied Trixon, Hoflieferant des Fürsten Kimiko von Darghessa» stand in goldenen Lettern an der Dachkante. Er hatte nicht gewusst, dass der Besuch aus Darghessa so feiner Herkunft war.
Er sah sich um, doch konnte er Ari nicht mehr im Garten sehen. Sicherlich saß nun die ganze Familie mit den Gästen im guten Wohnzimmer.
Sollte er sie stören? Seine neue Geschäftsidee kam ihm überwältigend vor. Wenn er sich nicht sehr täuschte, würde sie auch seinen Dienstherrn begeistern. Er musste ihm die Neuigkeit bringen, jetzt gleich. Am liebsten würde er nämlich auf der Stelle ein Testexemplar unter den Hammer nehmen, was er nicht ohne Erlaubnis tun durfte. Er beglückwünschte sich, dass er vor kurzem in den Besitz eines Schwertes gekommen war, das er als Muster für seinen Test benutzen könnte. Außerdem saß Ari ganz bestimmt mit den anderen in der Stube und würde ihn für seine guten Ideen vielleicht ein bisschen bewundern -allerdings sollte er sich vor den herrschaftlichen Gästen nicht in seiner verschmutzten Arbeitsmontur zeigen.
Er lud das Alteisen in der Werkstatt ab, hastete dann in seine Hütte, wusch sich in aller Eile und holte seine Sonntagskleidung aus der Truhe. Eifrig schlüpfte er in die grüne Pluderhose mit passendem Gürtel, die er sich in der pallanthischen Stadtfarbe hatte anfertigen lassen. Dann zog er noch ein weißes Leinenhemd an und den ockerfarbenen Lodenmanteldarüber. Seine blonden Haare bedeckte ein dreikantiger Hut, den er auf einem Basar erstanden hatte. Sein Schwert schnallte er sich zur Feier des Tages neben das obligatorische blank geputzte Hufeisen an seinen Gürtel.
Als er fertig war, ging er zurück und betrat mit klopfendem Herzen das Wohnhaus. Ihm war feierlich zu Mute,heute würde sein Leben vielleicht eine entscheidende Wendung nehmen.
Wie erwartet, hörte er lautes Stimmengewirr aus der Wohnstube. War das nicht Aris Stimme?
»Vierstöckig? Und jedes Zimmer mit echten Glasfenstern? Das ist ja ein Palast«, rief sie gerade in einem Tonfall höchster Bewunderung. »Aber ist es nicht sehr aufwändig sauberzuhalten? Ein Glasfenster richtig zu putzen, ohne dass man es zerbricht, ist bestimmt eine eigene Kunst.«
Lautes Gelächter antwortete ihr. Eine unbekannte männliche Stimme sagte:»Aber das würdet doch nicht Ihr putzen, Fräulein Ari. Ihr würdet Dienerinnen haben, die alle Arbeit für Euch tun. Eure Mägde würden schrubben, kochen, waschen, einkaufen, nähen, neue Kleider schneidern und auch alles andere tun, das Ihr befehlt. Ihr wäret in meiner Goldschmiede die Herrin, nicht die Dienerin.«
»Oh, ihr Götter«, hörte er Ari in einem Tonfall hauchen, als könnte sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Fan–tas–tisch.«
»Ich bin schließlich Hoflieferant des Fürsten. Er bestellt allen Schmuck ausschließlich in meiner Goldschmiede.«
Worüber redeten diese Gäste denn da? Was hatte Ari mit ihnen zu tun? Wieso sollte sie Dienerinnen bekommen? War das etwa … eine Brautwerbung? Der Gedanke ließ ihm das Blut in heißen und kalten Wellen nacheinander durch die Adern jagen.
Von solchem Geschwafel lässt du dich doch nicht beeindrucken, Ari? Du liebst mich. Auch wenn ich nicht in Angeberkutschen vorfahre.
Oder?
Es kam Silvrin vor, als stieße ihm jemand gewaltsam eine Egge in die Brust und durchpflügte damit seine inneren Organe. Der Schmerz war derartig umfassend, dass er glaubte, er könnte jeden Moment den Boden unter den Füßen verlieren.
Jemand klatschte laut in die Hände.
»Das hört sich wundervoll an«, schallte die laute und etwas schrille Stimme von Aris Mutter zu ihm in den Flur hinaus. »Oh! Ari! Du hast so ein Glück! Ich glaube, ich werde Henia fragen, ob nicht ihre Zwillinge eure Brautjungfern sein können. Die beiden sind allerliebst. Wie zwei kleine Waldfeen. Ihr werdet aussehen wie ein Prinzenpaar. Und ihr werdet auch leben wie ein Prinzenpaar. Wie ich mich freue! Lass dich umarmen, Trixon! Sei willkommen in unserer Familie!«
Silvrin stolperte rückwärts aus dem Flur, bevor er sich auch nur der Tür zur Wohnstube genähert hatte. Nichts von dem, das er hatte erzählen wollen, war jetzt noch von Bedeutung.
Wie konnte ein Typ mit solch einem rottigen Namen in der Lage sein, ihm sein Mädchen auszuspannen? Und dann auch noch so mühelos, indem er einfach ganz plump Glitter vor ihr auswarf!
Tief bis ins Mark erschüttert stolperte er aus dem Haus heraus und die Kellertreppe hinunter in die Schmiedewerkstatt. Dort ließ er sich auf seinen Arbeitshocker fallen und sank in sich zusammen. Die Egge in seiner Brust rotierte unbarmherzig, nun auch durch Magen und Gedärm.
Ein einziger Gedanke hielt ihn aufrecht: Vielleicht hatte er sich verhört? Ari würde ihn doch nicht einfach abblitzen lassen, einfach so, von irgendeinem Herrn Wichtigtuer. Ganz sicher würde sie sich, sobald sie ihre Mahlzeit beendet hatten, bei diesen Gästen entschuldigen und zu ihm in die Werkstatt herunterkommen, so wie sie es in den letzten Wochen unzählige Male getan hatte. Heute würde es sich für sie ja sogar lohnen, wo sie ihn zur Abwechslung einmal in Festkleidung antreffen würde. Anscheinend waren diese Äußerlichkeiten für sie wesentlich wichtiger, als er geahnt hatte.
Stunde um Stunde hörte er die Tempelglocken läuten.
Der Abend brach herein. Es wurde dunkel.
Niemand kam.
Vielleicht halten die Gäste sie auf und sie würde kommen, wenn sie nur dürfte?
Er hielt es nicht mehr aus.
Entschlossen erhob er sich, ging nochmals ins Haus hinein, wo nun aber alles still war. Er schlich sich vorsichtig die Treppe hinauf, blieb vor ihrer Zimmertür stehen und klopfte an. Sehr leise. Sie öffnete.
»Silvrin«, wisperte sie erschrocken. »Was tust du hier? Wenn die Mutter kommt!«
Er sah an dem abweisenden Blick in ihren Augen, dass er verloren hatte. Die Egge presste sich wie mit einem Meißel gehauen tiefer unter seine Haut und zerstach, während sie rotierte, die letzten Fäden, die drinnen noch irgendwas zusammengehalten hatten. Eigentlich ein Wunder, dass seine Füße ihn noch immer trugen. Er wunderte sich, dass der Durchzug durch das Fenster seine Einzelteile nicht einfach durch die Abendluft davon wirbelte.
»Keine Angst, ich bleibe nicht lange«, entgegnete er mit belegter Stimme. »Wirst du diesen Goldschmied heiraten?«
Sie errötete tief.
»N-na, also …«
Dann senkte sie den Kopf und schwieg.
»Ich habe auf dich gewartet«, flüsterte Silvrin.
»Ja, ich …Es hat länger gedauert - das Essen, und so.«
Wieder schwieg sie. Auch er brachte kein Wort heraus. Wenn er sie doch an sich reißen könnte. Wenn er doch ihr Herz wieder öffnen könnte! Was war passiert? Wie konnte sie ihn so schnell, so abrupt vergessen?
»Tut mir leid«, hauchte Ari.
»Das war es dann also. Was habe ich mir denn eingebildet?«, brachte Silvrin mit gepresster Stimme heraus.
»Es tut mir wirklich leid. Es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin nur …ganz durcheinander.«
»Ich verstehe, dass du gern ein Leben im Luxus führen willst, und ich werde dir nicht im Wege stehen. Ich … Ich gehe dann. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Viel Glück, Ari.«
Sich von ihr wegzudrehen, war schwer. Er wusste, dass sie danach wahrscheinlich nie wieder mit ihm sprechen würde.
Ein kräftiger junger Herr, dem die muskelbepackten Arme fast das Hemd sprengten, baute sich vor ihm auf. Auf seiner Brust baumelte eine goldene Uhrkette, an den Fingern trug er eine Unzahl von blinkenden Ringen, auf dem Kopf einen Zylinderhut. Er stemmte die Hände in die Seiten.
»Stellst du meiner Braut nach, Lump?«, zischte er.
Silvrin ergriff ein unbändiges Bedürfnis, diesem Stück Dreck einmal kräftig ins Gesicht zu schlagen. Er erkannte sich selbst kaum wieder. Er schlug sich nicht mit anderen, niemals. Man konnte Konflikte durchaus mit Argumenten lösen, war seine Devise. Gerade in diesem Augenblick erschien ihm jedoch ein Faustschlag das einzig treffende Argument zu sein. Er musste sich sehr zusammennehmen, um diesen Impuls zu unterdrücken.
»Ein gewisses Maß an Höflichkeit würde ich bei einem Kerl in Eurer Position schon erwarten«, sagte er bissig.
»Willst du dich aufspielen?«, höhnte Trixon. »Verzieh dich und such dir eine Dienstmagd. Du kannst nicht im Ernst erwarten, dass sich eine Dame auf dein Niveau herunterlässt.«
Silvrin dachte an die fürstlichen Kutschen, die er in der Stadt gesehen hatte, und daran, dass auf der Fürstenburg heute Abend ein Ball stattfinden würde.
»Ich könnte sogar eine Prinzessin küssen, wenn ich wollte«, fauchte er, schäumend vor Wut.
Trixon lachte schallend. »Eher lässt sich ein Zuchtpferd mit einem Wildschwein ein. Du bist ein simpler Sklave und wirst es bleiben, so lange du lebst!«
»Wetten wir?«, brüllte Silvrin.
Er war in solchem inneren Aufruhr, dass er sich sehr beherrschen musste, um diesem Hund nicht in den Bart zu packen und seinen Kopf mitsamt Zylinderhut gegen die Wand zu schleudern. Heftig atmend wandte er sich um und rannte die Treppe herunter.
»Da wird dir auch eine Wette nichts bringen, Idiot!«, schrie Trixon ihm hinterher.
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