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lässt ihn gelten, so, wie er ist,
wie er gewesen ist
und wie er sein wird.
Michael Quoist
Kapitel 1
Lukan drehte den Kopf zur Seite und schaute auf den Wecker. Wenn man lange genug die leuchtenden Ziffern anstarrte, verschwammen ihre Linien und die Zeit war nicht mehr zu erkennen. Leider ließ sie sich dadurch nicht anhalten.Er seufzte leise und sah zu der Frau herüber, die neben ihm lag und fest schlief. Vorsichtig schob er die Decke zur Seite, um sie nicht zu wecken, und stieg aus dem Bett. Geräuschlos zog er sich an und ging aus dem Schlafzimmer. Im Flur lag ein Umschlag, sein Name stand darauf und ein geschminkter Mund hatte einen Kuss auf dem weißen Papier hinterlassen. Lukan presste die Lippen zusammen, steckte die fünfhundert Euro aus dem Kuvert in seine Brieftasche und ließ den Umschlag achtlos auf den Boden fallen. Er trat auf den Korridor des Hotels und zog leise die Zimmertür hinter sich zu. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Am liebsten hätte er sich übergeben.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, verließ er das Hotel und ging in Richtung Bahnhof. Dort angekommen, holte er seinen Rucksack aus einem der Schließfächer und ging zur Fahrkartenausgabe.
»Eine einfache Fahrt bitte, für den nächsten Zug.«
Die Frau hinter dem Schalter sah auf und starrte ihn mit großen Augen an.
»Der… der nächste Zug geht in zehn Minuten und fährt durch bi… bi… bis nach Binz«, stotterte sie und benetzte mit der Zunge ihre Lippen. »Erste oder zweite Klasse?«
»Zweite«, sagte Lukan knapp.
»Sehr gerne«, hauchte die Frau, zwinkerte ihm zu und druckte den Fahrschein aus. »Ich schreibe Ihnen zur Vorsicht noch meine Handynummer auf«, fuhr sie fort und ihre Wangen färbten sich rot. »Wenn Sie irgendwelche Probleme mit dem Service im Zug haben, oder sonst etwas… möchten… dann…«
Lukan nahm das Ticket und drehte sich wortlos um.
»Leck mich«, brummte er und die Frau seufzte schwärmerisch.
Lukan ging zum angegebenen Gleis und stieg in den wartenden Zug. Er setzte sich ans Fenster, stellte seinen Rucksack auf den leeren Platz neben sich und keine fünf Minuten später setzte sich der ICE in Bewegung.
Er verließ die Stadt, deren Namen er schon nicht mehr wusste, und fuhr zu einem Ziel, das er längst wieder vergessen hatte. Es war nicht wichtig, dachte Lukan und sah aus dem Fenster. Die Sonne ging am Horizont auf und die Landschaft glitt schneller und schneller an ihm vorbei.
Auf dem Gang hörte er plötzlich weibliche Stimmen und Gelächter. Schnell zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht, stellte sich schlafend und betete zu Mutter Erde, dass die Frauen ihn nicht bemerkten und in Ruhe ließen.
Wenigstens dieses eine Mal wurden seine Gebete erhört. Lukan seufzte erleichtert und starrte wieder aus dem Fenster. Er hatte die Nase gestrichen voll von den Menschenfrauen. Sie waren wie die Fliegen und er das Stück Scheiße, um das sie herumschwirrten.
Drei lange Jahre war er zusammen mit einem Wächter der Menschen in einer Höhle gefangen gehalten worden. Er und Tom hatten sich gegenseitig immer wieder Mut gemacht, hatten einander versichert, dass man sie finden und ihre Entführer überwältigen würde. Doch irgendwann hatte Lukan nicht mehr daran geglaubt. Die Höhle, in die man sie eingesperrt hatte, war groß. Trotzdem schien es Lukan, als würden die Wände Tag für Tag einen Schritt auf ihn zu machen. Sie kesselten ihn ein, drohten sich auf ihn zu stürzen und würden ihn unweigerlich irgendwann zerquetschen.
Als ihn sein Elfenfreund Darian mit Hilfe anderer Beschützer schließlich befreit hatte, konnte Lukan sein Glück kaum fassen. Damals war er sicher gewesen, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Doch er hatte sich geirrt.
Seine Entführer hatten seinen Vater ermordet. Seine Mutter hatte geglaubt, auch ihren einzigen Sohn verloren zu haben, und war an gebrochenem Herzen gestorben. Seine Familie war tot und er hatte kein Zuhause mehr, zu dem er hätte zurückkehren können.
Damals beschloss Lukan, auf Wanderschaft zu gehen. Er wollte durch die Natur ziehen, die Magie der Erde aufnehmen und langsam sein inneres Gleichgewicht wiederfinden. Am Anfang hatte es den Anschein gehabt, als ob dies der richtige Weg gewesen wäre, bis er auf seinen Wanderungen durch eine Menschenstadt gekommen war.
Die Menschen hatten ihn sehen können! Lukan war entsetzt gewesen. Ein mächtiger Bann verhinderte seit Jahrhunderten, dass sich Elfen und Menschen wahrnehmen konnten. Nur wenige Auserwählte waren in der Lage, das jeweils andere Volk zu sehen. Doch jetzt konnten alle Menschen Lukan sehen!
Schockiert hatte er den Rat der Ältesten aufgesucht und um Hilfe gefleht. Die Mitglieder des Rates waren bestürzt und konnten sich nicht erklären, warum der Bann für Lukan gebrochen war. Einzig Jonadin hatte eine Vermutung. Die Tatsache, dass Lukan drei Jahre in Gefangenschaft mit einem menschlichen Wächter zusammen auf engstem Raum verbracht hatte, könnte den Bann aufgehoben haben. Leider sah man keine Möglichkeit, Lukan erneut zu bannen, um ihn für die Menschheit wieder unsichtbar zu machen. Auch hatten Lukans Selbstheilungskräfte abgenommen und er war nicht mehr in der Lage Flüche auszusprechen. Sein Gefängnis war eine in den Stein gehauene Höhle gewesen. Jonadin glaubte, dass durch die fehlende Berührung von Mutter Erde, Lukans Magie bis auf einen kleinen Funken erloschen war. Der Rat der Ältesten hatte ihm angeboten in Erigan, der Hauptstadt der Elfen, zu bleiben. Hier, tief im Erzgebirge, wäre er in Sicherheit vor den Menschen und die Magie der anderen Elfen könne ihm im Notfall helfen. Doch Lukan lehnte ab. Die mitleidigen Blicke der Bewohner von Erigan konnte er einfach nicht ertragen.
Lukan verschränkte die Arme, lehnte sich in dem Zugsitz zurück und lachte bitter. Das Einzige, was ihn noch als Elfen ausmachte, war seine Immunität gegen Krankheitserreger und die Tatsache, dass er Alkohol nicht gut vertrug.
Und natürlich sein gutes Aussehen, denn Lukan war selbst für Elfenfrauen sehr attraktiv. Er war groß, über einen Meter neunzig, schlank und muskulös. Seine Schultern waren breit, seine Hüften schmal und seine Haut makellos. Mit türkisblauen Augen umrahmt von langen schwarzen Wimpern, bannte er den Blick der anderen, ohne aufdringlich zu wirken. Seine vollen Lippen, die gerade Nase und die geschwungenen Augenbrauen waren ebenmäßig, strahlten aber dennoch Kraft und Männlichkeit aus. Lukan blickte auf seine Hände. Sie waren feingliedrig, die Finger lang und gerade und trotzdem sahen sie stark und maskulin aus.
Er seufzte leise, strich seinen überlangen Pony aus dem Gesicht und klemmte eine Haarsträhne hinter das Ohr. Seine Ohrmuscheln liefen wie bei allen Elfen spitz zu, allerdings nicht so ausgeprägt wie bei den meisten seines Volkes. Selbst seine Füße und Zehen waren perfekt geformt. Er hätte kotzen können.
Lukan ließ seinen Blick zur Sonne schweifen. Schon jetzt am frühen Morgen spürte man ihre Kraft und ihre Wärme. Es würde heute sicher ein heißer Tag werden. Lukan sah so lange in den glühenden Ball, bis ihm die Augen schmerzten. Als er den Blick abwendete, tanzten farbige Lichter und weiße Blitze um ihn herum. Selbst bei geschlossenen Augen führten sie für ihn ihren bunten Reigen auf.
Doch irgendwann spiegelte sich wieder die Realität auf seiner Netzhaut. Die Landschaft veränderte sich und wurde immer flacher. Lukan runzelte die Stirn. Er wollte das Schicksal entscheiden lassen, wohin er als Nächstes gehen sollte. Konnte es so grausam sein und ihn zum Meer führen? Lukan liebte stille Gebirgsseen und plätschernde Flüsse, aber das Meer? Nur salziges Wasser, tosende Brandung und schäumende Wellen - widerlich. Müde schloss er die Augen und versuchte etwas zu schlafen. Er wachte erst auf, als der Schaffner ihn vorsichtig an der Schulter rüttelte.
»Sie müssen hier aussteigen, junger Mann, Endstation.«
Wie Recht er hat, dachte Lukan.
»Danke«, murmelte er und griff nach seinem Rucksack.
Vor Jahren, als er noch ein richtiger Elf gewesen war, wäre er dem Schaffner an die Kehle gesprungen, wenn er ihn so geweckt hätte. Elfen aus dem Schlaf zu reißen, konnte ausgesprochen unangenehm sein. Aber er war kein Elf mehr, dachte er verbittert, und auch kein Mensch. Er war ein Niemand.
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